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Ostfriesische Mennoniten lassen Grundsätze fallen

Aktualisiert: 19. Aug.

Ein Besuch im August 2024 in der Hafenstadt Leer (Ostfriesland) hat bei mir viele Eindrücke hinterlassen, die ich hier gerne teilen möchte.


Mennoniten schreiben Stadtgeschichte. Danke an Gästeführer Bernt-Dieter Boelsen für den sehr informativen Stadtrundgang zur mennonitischen Geschichte der Stadt Leer. Danke auch für das geduldige Beatworten meiner vielen Fragen.


Gequält, geduldet, geschätzt. In Leer (Ostfriesland) fanden ab 1540 vor allem verfolgte Täufer aus den Niederlanden einen Rückzugsraum. Sie mussten hier zwar nicht um ihr Leben fürchten, waren aber dennoch Außenseiter der Gesellschaft. Vom ostfriesischen Grafenhaus wurden sie nicht toleriert, sondern nur geduldet und mussten ihre Schutzbriefe teuer bezahlen. Jedoch wussten die ostfriesischen Grafen und Fürsten den „Wert“ der Mennoniten schon bald zu schätzen. Ohne sie ist die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und vor allem des Hafens nicht denkbar.


Zwischenhändler, Makler und Investoren. Ab Ende des 16. Jahrhundert gründeten einzelne im Leinengewerbe tätige Mennonitenfamilien wie z.B. die Zijtsema, Vissering und Bavink global operierende Unternehmen. Sie waren meist Zwischenhändler, Makler und Investoren und betrieben Reedereien und Schiffswerften und Handelsunternehmen. Wichtiger als die Rohstoffe und Produktionsbetriebe waren die Handelsbeziehungen. Diese brachten die Mennoniten aus den Niederlanden mit.


Mit den Mennoniten kam der Aufschwung nach Ostfriesland. Leer wurde das Zentrum in dem Leinen produziert und gehandelt wurde. Niederländische Glaubensflüchtlinge, die im 16. Jahrhundert zahlreich nach Ostfriesland kamen, haben einen großen Anteil an diesem Aufschwung. Sie errichteten innerhalb weniger Jahre eine blühende Leinenindustrie, die Anfang des 17. Jahrhunderts ihrem Höhepunkt entgegenstrebte. Dabei zeigten vor allem die Mennoniten großes handwerkliches und wirtschaftliches Geschick. Der Leinenhandel wurde der wichtigste Wirtschaftszweig in Leer. Es wurde nicht nur für den heimischen Markt produziert, sondern auch für das Ausland. Exporte gingen vor allem in die Niederlande, England und nach Spanien. Es waren Familien wie Alring, van Hoorn, Vissering und Zijtsema, die über Jahrhunderte den Leinenhandel in Leer dominierten.


Flüchtlinge kamen nicht mit leeren Händen. Hier ist eines der Häuser wohlhabender Mennoniten in Leer zu sehen mit dem typisch niederländischen Baustil wie man ihn in Antwerpen, Amsterdam oder Groningen findet. Aus diesen Handelsstädten kamen viele der wohlhabenden und erfolgreichen Kaufleute und Handwerker. Sie brachten neben Erfahrung und Handelskontakte auch Kapital mit. Mennonitische Familien und Persönlichkeiten prägten das wirtschaftliche und kulturelle Leben im frühneuzeitlichen Leer und hinterließen vielfache bauliche Spuren.


Echter Blickfang: Haus „Samson“. Dieses Haus ist von Anfang an eng mit der Geschichte der Mennoniten in Leer verbunden. Von den insgesamt 43 Handelshäusern in Leer gehörten Ende des 18. Jahrhunderts 32 Handelshäuser den Mennoniten. Fast zeitgleich (1811) lebten ca. 96 Mennonitenfamilien in Leer. Das sind ca. 13 % der Gesamtbevölkerung.


Hausmarke statt Hausnummer. Die Hausmarke, der Fisch mit dem Ring im Maul, ist an verschiedenen Häusern der Altstadt zu sehen. Sie gehörten alle einmal der Familie Vissering, eine weitverzweigte, mennonitische Handelsfamilie in Leer.


Kirchentür trennt Licht und Finsternis. Drei goldene Buchstaben befinden sich an der schlichten Mennonitenkirche in Leer: „DEO“. In Deutsch „Dem Gott“. Von außen dominieren dunkle Farben, grauer Putz, anthraziter Eingang. Das soll die menschliche Welt mit all ihrer Unvollkommenheit symbolisieren.


An der dunklen Kirchentür übertritt man eine unsichtbare Schwelle und gelangt von der unvollkommenen Menschenwelt in die vollkommene Welt Gottes. Der Kirchensaal erstrahlt hell in Weiß und Gold. Die halbrunden Fenster lassen viel Tageslicht in den Raum.


Mennoniten gedenken ihrer gefallen Soldaten. Der einzige Schmuck an den Wänden der Kirche sind diese Gedenktafeln. Sie ehren die gefallenen Soldaten dieser Mennonitenkirche seit 1870. Sie waren also aktiv am ersten und zweiten Weltkrieg beteiligt. Recht früh wurde hier scheinbar damit begonnen mennonitische Grundsätze, wie Wehrlosigkeit und Gewaltfreiheit, aufzugeben. Seit 1850 brauchten Mennoniten kein Schutzgeld mehr zu bezahlen und waren gleichberechtigt mit anderen Bürgern der Stadt Leer. Gaben sie also ihre wichtigsten Grundsätze auf, um Gleichberechtigung zu erlangen?


Leere Kirchenbänke. Heute gibt es in dieser Mennonitengemeinde noch 38 Mitglieder(ca. 0,1% der Gesamtbevölkerung) und selten Gottesdienste. Und das, obwohl sie nicht mehr verfolgt werden. Oder droht das Aussterben der Gemeinde, gerade weil sie nicht mehr verfolgt werden? Gedeiht Gemeinde unter Druck besser? Diese Fragen haben mich nach dem Besuch noch lange beschäftigt.


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